La Paz I – von Coca, Knast und Knabereien
Am späten Abend steigen wir in kurzen Hosen in La Paz aus dem Flugzeug und ziehen uns direkt im Terminal erst mal wärmer an. Im Gegensatz zu den 40 Grad Celsius in Santa Cruz ist es hier doch deutlich kälter – BRRRRRRRRRRRR!
Die Stadt La Paz liegt an einem Berghang und ist auf 3200 bis 4100 Höhenmeter verstreut. Weil der Flughafen oben liegt (El Alto), rasen wir bzw. unser Taxifahrer zunächst über eine kurvige Autobahn den ganzen Weg hinunter in die Innenstadt, wo der Cousin eines Freundes das Hostel „Onkel Inn“ betreibt. Dummerweise haben wir nicht vorab reserviert, so dass wir für diese Nacht nur noch das letzte verfügbare Zimmer bekommen – winzig klein und direkt neben dem Eingang mit der Raucherecke, in der sich nachts noch einige Backpacker angeregt bei einer Zigarette unterhalten. Weil das einzige „Fenster“ unseres Zimmers die Eingangstür aus Glas ist, die zudem auch nur mit einer fast durchsichtigen Gardine verhängt ist, werden wir gezwungen, die Gespräche in voller Lautstärke mitanzuhören. Das Licht der Außenlampe leuchtet zudem unser Zimmer komplett aus und lässt uns nur wenig Schlaf finden. Über das Bad wollen wir mal lieber gar nicht reden. Wir beschließen, hier keine weitere Nacht zu verbringen.
Am nächsten Morgen lernen wir beim Frühstück (Tee, Toastbrot und Butter) ein nettes deutsches Pärchen kennen, sie angehende Deutsch- und Sportlehrerin, er Fotograf, welches ein Zimmer im oberen Stockwerk des „Onkel Inn“ bewohnt und heute noch ausziehen wird. Dieses Zimmer ist ungefähr 5 mal so groß wie unseres, kostet aber das gleiche und besitzt sogar Steckdosen zum Aufladen unserer elektronischen Geräte – ein Luxus, der uns in der letzten Nacht nicht zur Verfügung stand. An der Rezeption machen wir daher schnell den Zimmerwechsel klar und auf geht’s ins Abenteuer La Paz!
Einem Tipp des deutschen Pärchens vom Frühstück folgend, begeben wir uns zur Plaza Sucre, wo um 11:00 Uhr die Red Caps Free Walking Tour starten soll. Wir sind ein bisschen früh und setzen uns daher erstmal auf eine Bank und verfolgen das Treiben auf dem belebten Platz, wo gerade eine große Schulveranstaltung zum Thema Umwelt, Natur und Coca stattfindet. Überall sind Stände aufgebaut, an denen die Schüler auswendig gelernte Informationen zu den vor ihrer Schule vorbereiteten Themen aufsagen – dominierend ist das Thema Coca und wie vielfältig diese Pflanze eingesetzt wird. Neben Anwendungen in der Medizin und Textilindustrie kann man angeblich durch ein alt tradiertes Ritual mit Coca auch Glück herbeirufen (was uns sogleich demonstriert wird), außerdem gibt es natürlich viel Tee, Säfte, Kuchen und Kekse, die mit der Zutat Coca hergestellt wurden und uns, begeistert von unserem Interesse an ihrer Veranstaltung, an jedem Stand in die Hände gedrückt werden. Dabei wird von den Kindern im Chor das Motto vorgetragen: Coca ist kein Kokain! Ablehnen macht hier keinen Sinn, und so ziehen wir uns nach einer Weile, mehrere Teller mit unterschiedlichen Kuchenstücken und einige Getränkebechern balancierend, zurück zu einer Parkbank, wo erstmal alles probiert wird. Manches ist durchaus lecker, anderes (wie z.B. die steinharten Kekse) wollen dagegen nicht mal die Obdachlosen haben, die im Park herumlungern und unser Angebot auf Überlassung des Gebäcks deutlich zurückweisen. Kennen die wohl schon.
Apropos Obdachlose: Während wir so auf unserer Bank sitzen, kommt ein ziemlich zerlumpt aussehender Amerikaner auf uns zu und fragt, ob wir auf die Red Cap Walking Tour warten. Erst sind wir etwas verwirrt, ob es sich bei diesem barfuß Dahergelaufenen tatsächlich um den Tour-Guide handeln soll, dann erzählt er uns jedoch, dass er aus dem Gefängnis komme, das sich an der Stirnseite der Plaza Sucre befindet, und zehn Jahre abzusitzen habe. In zwei Wochen werde er aber entlassen. Nun ja, was entgegnet man darauf? Hmm, äh, öh – good luck! Huch, schon so spät… und dort drüben sind schon unsere wahrhaftigen Tour-Guides mit den roten Caps und einer Schar Touristen um sich herum.
Auf der Tour erfahren wir interessante Details über dieses Gefängnis San Pedro: Ursprünglich für 300 Insassen errichtet, beherbergt es mittlerweile rund 1500 Menschen und ist der größte Knast des Landes. Es funktioniert wie eine eigene kleine Stadt in der Stadt und wird komplett selbst von innen heraus organisiert. Zellen gibt es hier nicht, Wachen nur an den Außenmauern. Wer hier reinkommt (und das geht manchmal schneller als man Kokain sagen kann, weil die Unschuldsvermutung in diesem Land nicht gilt und die Zeitspanne der Untersuchungshaft bis zum Prozess, in dem man seine Unschuld beweisen muss, seeeeeeeeehr lang sein kann!), muss sich zunächst ein Bett suchen. Anders als in anderen Gefängnissen gibt es hier von der Verwaltung erstmal nichts, d.h. man kann sich entweder beim Chef bzw. Bürgermeister des Gefängnisses oder über einen Makler, der sogar Anzeigen aushängt, ein Bett mieten. Die Preise können dabei von 20 Dollar für eine Matratze auf dem Fußboden bis zu 5000 Dollar für eine Suite im Wohntrakt der Wohlhabenden mit mehreren Zimmern, eigenem Bad mit Whirlpool, Reinigungsservice, Kabelempfang und Zugang zum Fitnessraum betragen.
Wer kein Geld hat, kann zunächst versuchen, seine Fähigkeiten wie z.B. Kochen, Übersetzen, Tischlern, Schuhe reparieren o.ä. einzusetzen und sich damit selbständig zu machen, oder er sucht sich einen Job, z.B. als Koch oder Kellner in einem der zahlreichen Restaurants und Cafés, als Putzkraft, Drogendealer (für das im Gefängnis hergestellte Kokain) oder was sonst so im Angebot ist. Es gibt hier eigentlich alles, was es in jeder anderen Stadt auch gibt – Lokale, Geschäfte, Kneipen und Billardsalons sowie jegliche Dienstleistungsangebote, die man benötigen könnte. (Ehe-) Frauen und Kinder können ein- und ausgehen oder sogar im Gefängnis übernachten. Dies müssen viele schon deshalb, weil der einsitzende Ehemann oft finanziell nicht in der Lage ist, für zwei Haushalte (einen im und einen außerhalb des Knastes) aufzukommen. Die Familie ist für die Insassen zugleich wichtige Verbindung nach draußen und die Angehörigenbringen alles rein, was hier so gebraucht wird, z.B. säckeweise Lebensmittel, die in den Restaurants des Gefängnisses zubereitet und verkauft werden.
Eine Zeit lang haben einige Insassen ihr Geld mit (inzwischen illegalen) Gefängnistouren als besonderen Kick für Touristen verdient. Das lief so gut, dass diese Touren sogar als Geheimtipp in einem namhaften Reiseführer angepriesen wurden. Die Wachen erhielten dabei offenbar ihren Anteil am Eintritt. Unglücklich war es dann nur, wenn hin und wieder Touristen bei dieser Tour ausgeraubt wurden und neben ihren Wertsachen auch ihre Pässe los waren. Diese mussten dann am Ausgang nicht nur irgendwie glaubhaft machen, wer sie sind (was sicher nicht einfach ist, wenn die Touristen ggf. noch nicht mal spanisch sprechen), sondern auch erklären, was sie eigentlich hier drin machen. Wenn man gerade ausgenommen wurde, ist in diesem Fall wohl auch mit Schmiergeld nichts zu machen, und es könnte schon ein wenig dauern, bis sich das Missverständnis aufgeklärt hat. Es gibt in diesem Zusammenhang auch Geschichten wie die eines neuseeländischen Touristen, der, nachdem er bei einer solchen verbotenen Besichtigungstour aufgegriffen wurde, von der Polizei auf dem kurzen Dienstweg kurzerhand ins Nachbarland abgeschoben wurde und dort dann mehrere Tage ohne Geld oder Kreditkarten verbringen musste, bis er es schließlich organisieren konnte, dass man ihm seine Sachen aus dem Hotel bringt. Ob die Geschichte sich nun tatsächlich genau so oder ähnlich zugetragen hat, es erscheint eher nicht empfehlenswert, heute noch eine solche Knast-Tour mitzumachen. Der besagte Reiseführer hat diesen Tipp übrigens in seiner neuen Auflage entfernt.
Die Red Cap Walking Tour führt durch die zahlreichen Straßenmärkte der Stadt, in denen die sog. Cholitas in ihrer traditionellen Kleidung ihre Waren anbieten. Durch die Tracht dieser indigenen Frauen, die aus einem Überrock (Pollera) und bis zu zehn Unterröcken besteht, sehen sie mit ihren ausladenden Hüften mitunter geradezu adipös wie eine Mischung aus einem dieser Stehaufmännchen und einem Mitglied der Familie Barbapapa aus, nur kleiner und nicht ganz so bunt. Bunt ist dafür das Schultertuch, in das sie mal Kleinkinder und mal riesige Mengen Waren zum Transport einwickeln und auf dem Rücken tragen. Abgerundet wird das zum Fotografieren geradezu einladende Bild durch einen Hut, zumeist einen Bowler, der zum Ausdruck des Reichtums auch gern mal in England bestellt wird und mit mehreren tausend Pfund zu Buche schlagen kann. Allerdings lassen sich die Damen nicht fotografieren – sie werden mitunter richtiggehend böse und werfen ihr Gemüse nach den die Kamera zückenden Touris! Die ausnahmslos langen schwarzen Haare dieser Damen sind hinten stets zu zwei polangen Zöpfen geflochten und an den Enden mit zusätzlichen Trotteln zusammengebunden.
Weiterer Ausdruck von Reichtum der Cholitas ist außerdem, sich Goldzähne einsetzen zu lassen oder die Schneidezähne mit Gold einfassen zu lassen. Wer hat, der zeigt! Trägheit gilt im Übrigen als großes Laster, und so machen sich auch eigentlich reiche und alte Frauen noch jeden Tag mit großen Säcken frühmorgens auf den Weg, um auf dem Markt ihre Waren feilzubieten. Nahezu der gesamte Handel der Stadt wird über die Cholitas abgewickelt, Supermärkte findet man in dieser Stadt eher selten. Jeder hat seine Stamm-Cholita auf den einzelnen Märkten, bei der bereits die Mutter und Oma die jeweiligen Produkte des Alltags erworben haben, die alles über einen weiß und auch bei jeglichen privaten Problemen ein offenes Ohr und einen guten Ratschlag hat. Sieht sie ihre Kundin jedoch einmal bei anderen Cholitas kaufen, kann sie extrem beleidigt und sehr nachtragend reagieren. Sitten und Bräuche werden hier noch im Alltag gelebt!
Vorbei geht es auch am sog. mercado de las brujas, dem Hexenmarkt, der vom Liebeszaubertrank bis zum toten getrockneten Lama-Baby (das im Übrigen Glück beim Hausbau bringen soll) eigentlich alles im Angebot hat, was die bolivianische Zauberkunde so aufbietet. Brauchst Du noch eine Verwünschung (anderer), einen Genesungszauber oder auch nur einen Talisman? Hier bist Du an der richtigen Adresse. Da jedoch niemand so genau weiß, was in den Pülverchen und Ampullen so alles drin ist, sollte man die Magie wohl besser im Land belassen und nicht versuchen, ein paar Liebestränke für die Kumpels oder Heilkräuter für die Oma mit nach Hause zu nehmen. Es könnte bei der Zollkontrolle wohl im besten Fall für Erstaunen sorgen…
Die Stadtführung bringt uns auch in die Markthalle von La Paz, einem architektonischen Ungetüm aus grünem Beton, in dem es an wunderbaren einheimischen Köstlichkeiten in flüssiger wie fester Form zu super billigen Preisen nichtmangelt. Wir probieren einen vor Ort frisch nach meinem Wünschen zubereiteten Frucht-Smoothie als Vitamin-Schocker, sowie eine Art bolivianischer Kumpir mit Fleisch und Gewürzen. Auf den bolivianischen Märkten werden übrigens mehr als 200 verschiedene Sorten Kartoffeln feilgeboten! Increible! Sonstige Haupternährungsquelle der Einheimischen übrigens gegrilltes oder frittiertes Hühnchen zu sein. Preisgünstige Hähnchengrills findet man hier mindestens einmal pro Straßenblock. Und weil es auch sehr gut schmeckt, teste ich viele davon aus – yummie!
Neben der Besichtigung vieler schöner alter Kirchen und Regierungsgebäuden, kommt auch der Adrenalin-Junkie in La Paz auf seine Kosten. Beim sogenannten Urban-Rush -Skyscraper kann man einen 50 Meter hohen Turm vertikal „herunterlaufen“; Noch waghalsigere nehmen gleich die „Death Road“ – wie der Name schon sagt, eine der gefährlichsten Straßen der Welt – auf der man sich in geführten Mountainbike-Touren über 3000 Höhenmeter hinabstürzen kann. Diesen Fun haben bedauerlicherweise aus verschiedenen Gründen verpasst, es steht aber definitiv auf unserer To-do-list für den nächsten Trip nach Bolivien!!! Alle Tour-Absolventen haben uns euphorisch von ihrem Downhill-Ritt berichten können. Der Spaß kostet inklusive Leihrad, Helm bzw. Ausrüstung, Lunch, T-Shirt (I survived..) und anschließendem Chillen im Spa rund 500 Bolivianos, offenbar lohnenswert!
Insgesamt dauert die Walking Tour knapp drei Stunden und ist unbedingt empfehlenswert! Natürlich würde man die meisten abgeklapperten Orte auch auf eigene Faust entdecken können, aber die Hintergrundinformationen, von denen uns die einheimischen Mädels berichten konnten, sind schon interessant und sie verschaffen einen echten Einblick in Land & Leute sowie deren Leben und Traditionen.
Wir lassen uns im Anschluss an den ausgiebigen und lehrreichen Stadtrundgang noch eine Weile im Zentrum treiben und buchen in einem Reisebüro, an dem wir zufällig vorbei kommen, für den nächsten Morgen eine Busfahrt nach Copacabana am berühmten Titicaca-See.
Am frühen Abend kommen wir zu einer Station des Teleferico, der seit wenigen Monaten erst die Unter- mit der Oberstadt verbindet. Während man mit dem Auto für diese Strecke einen langen Umweg machen und deutlich mehr Zeit aufwenden muss, schafft diese brandneue Seilbahn österreichischer Herkunft sie jetzt in wenigen Minuten. Dazu bietet sie eine spektakuläre Aussicht auf die Stadt und vor allem abends bei Sonnenuntergangsstimmung ein atemberaubendes Panorama vom ärmeren Oben (El Alto) in das reiche Unten, dem geschäftigen Stadtzentrum. Mit der roten und der gelben Linie sind im Sommer 2014 zwei Seilbahn-Verbindungen der Unter- mit der Oberstadt geschaffen worden, acht (sic!) weitere Linien sollen noch entstehen – so das Versprechen des bolivianischen Staatspräsidenten Evo Morales…